Das Einhorn

Die junge Frau saß auf einem moosbedeckten Stein in der Mitte des Waldes. Ihr blasses Gesicht war gedankenversunken, schien durch die kahlen Baumstämme hindurch in eine andere Welt zu starren, so als ob ihre grünen Augen das satte Grün der Blätter einfangen wollten, die nun fehlten. Sie hatte ihre modernen Kleider gegen ein grünes, besticktes Kleid ausgetauscht, das ihre zarte, weiße Haut hervorhob und ihre schlanke, perfekte Figur umschmeichelte, halb verhüllt von einer Kaskade goldenen, leicht gelockten Haares. Sie sah aus wie man sich die Göttin Flora in der Frische ihrer Jugend vorgestellt hätte, wie die Personifikation des Sommers in dieser trostlosen Winterlandschaft. Und doch war ihr Gesichtsausdruck ernst, als sie bewegungslos dasaß, versunken in brütende Tagträume.

 

Sie hatte diese Stelle vor einigen Wochen gefunden, als sie sich weiter vorgewagt hatte als je zuvor, weit weg vom Lärm des vorbeiziehenden Verkehrs. Hier war nur Vogelgesang zu hören. Hohe Bäume umgaben die Lichtung, an deren Rand sie saß. Das Moos unter ihr war kühl und weich. Die Wintersonne fiel schräg durch die Bäume, warf fantastische Schatten auf die Lichtung und spielte in rotgoldenen Reflexen auf ihren Haaren. Sie versuchte, sich diesen Ort im Sommer vorzustellen. Die Blätter, das Gras, die Blumen. Wenn irgendwo, dann würde es hier sein. Und hier saß sie nun, und wartete.

 

Es war schon später Nachmittag, der allmählich in Abend überging. Sie wusste nicht wirklich, warum sie immer noch hierher kam. Ein törichter Traum, dem sie einmal gefolgt war. Eine Legende, die irgendwo in ihrem Kopf lebte, ein schwacher Schimmer einer anderen Dimension, genährt von einer kindlichen Hoffnung, die überlebt hatte, der Art von Hoffnung, wie sie in den Augen von Kindern funkelt, wenn sie sich am Weihnachtsmorgen ehrfürchtig dem Christbaum nähern, oder wenn sie dabei sind, eine alte, verborgene Truhe auf dem Dachboden zu öffnen. Ein schwer fassbarer, intuitiver Glaube an Wunder.

 

Die Sonne war nun am Untergehen. Langsam sank sie hinter verstreute Wolkenfetzen, und der Mond zeichnete sich schon bleich oben am Himmel ab. Vögel hörte man nur noch vereinzelt. Die Zeit war gekommen.

 

Langsam öffnete sie die Bänder ihres Kleides und schlüpfte vorsichtig heraus, dann zog sie ihre Unterwäsche aus. Die eisige Winterluft stach ihr wie Nadeln in die Haut, doch dies hier war wichtiger. Zitternd setzte sie sich wieder auf den moosigen Stein und wartete, kauerte sich in ihren Umhang aus goldenen Haaren wie ein kleines, verlorenes Tier.

 

‚Ich wünschte, es gäbe hier einen Bach, um darin zu baden,’ dachte sie, wusste aber gleichzeitig, dass es keinen Unterschied machen würde. Nachdenklich drehte sie eine Strähne ihres goldblonden Haares um ihre Finger, und ein freudloses Lachen entrang sich ihren Lippen. Jeder sagte, sie sähe wie ein Engel aus – aber sie wusste es besser. Sie kannte die Makel, die niemand sah. Die anderen konnten nichts von ihrem Schmerz wissen. Wer immer sich die Mühe machte, genau hinzusehen, würde Narben bemerken. An ihren Armen. An ihren Beinen. Aber niemand sah die Wunden darunter. Die Wunden, die viel tiefer liegen, die wieder und wieder schwären, die selbst die Zeit nicht zu heilen vermag. Die Wunden, die sie noch nicht einmal selbst sehen konnte, sondern nur verworren fühlen. Die Wunden, zu denen sie niemals vorgedrungen war, wie tief sie auch in ihr eigenes Fleisch geschnitten hatte.

 

Der Wald war nun düster geworden. Kleine Tiere begannen auf dem Boden in ihrer Nähe herumzuhuschen. Anfangs hatte sie sich gefürchtet vor der Dunkelheit und den nächtlichen Geräuschen, aber nun konnte sie diese Angst kontrollieren. Dennoch rutschte sie unbehaglich hin und her, denn ihre Glieder waren schon steif vor Kälte. Ihre Augen brannten vor Enttäuschung. Wie eine Fledermaus flatterte ihr der Gedanke durch den Kopf: ‚Ich muss wohl schon wieder gehofft haben. Entgegen jeder Vernunft, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, habe ich wieder gehofft. So eine Närrin bin ich.’ Ihre Augen brannten, aber es kamen keine Tränen. Tränen hatten sie schon vor langer Zeit verlassen. Vielleicht waren sie eingeschlossen in Untergrundregionen, die ihrem Zugriff entzogen waren. Vielleicht waren sie auch ausgesaugt worden zusammen mit ihrer Unschuld. Nichts war geblieben, um den Schmerz wegzuwaschen – keine Tränen außer blutroten.

 

Sie wollte nicht daran denken. Stattdessen wanderten ihre Gedanken von einer kleinen Ablenkung zur nächsten. Allmählich wurde sie schon ganz schläfrig. Wie das Mondlicht die Baumstämme bemalte. Geisterhaftes Grau und Rabenschwarz Seite an Seite. Ein Baum in zwei geteilt. Und der silberne Baum dort. So hell und glänzend. Und wie er sich bewegte – sich bewegte? Ihre Augen weiteten sich. Er kam näher! Das war kein Baum… Eine weiße Mähne. Ein Pferd. Ein schlankes, anmutiges, kraftvolles Pferd. Ein Pferd mit einem Horn! Es… es war tatsächlich geschehen! Ein Einhorn!

 

Sie holte tief Luft, hätte beinahe geschrieen. Für einen Moment jagten die wildesten Fantasien durch ihren Kopf. Es war also doch wahr! Die Legende war wahr! Einhörner – es gab sie also wirklich! Oh wenn es tatsächlich kommen würde! Die Legende – war wahr. Ein plötzlicher Eishauch ließ ihr Herz gefrieren. Die Legende war wahr – in all ihren Einzelheiten. Sie kannte die volle Wahrheit, die bittere Wahrheit. Es würde sich nicht täuschen lassen. Nicht ein Einhorn. Es würde ihre Tarnung durchschauen, ihre goldenen Locken und blütenweiße Haut mit der erbarmungslosen Genauigkeit eines Röntgenstrahls durchdringen und direkt in ihre beschmutzte Seele vordringen. Es würde die Flecken sehen, die sie nicht wegwaschen konnte. Es würde wissen, dass sie nicht würdig war. Es würde weglaufen.

 

Und doch klammerte sich ein kleiner Teil von ihr an die Hoffnung. Hätte sie es gewagt, sie hätte gerne gerufen, ihre Bedürftigkeit hinausgeschrieen, ihre Sehnsucht jeglicher Unwahrscheinlichkeit ins Gesicht geschleudert – „Komm, komm weil ich dich brauche! – Komm, weil mir das Herz bricht! – Kannst du nicht sehen, wie ich blute, sterbe? – Komm, weil ich hilflos bin!“ Doch ihre Stimme blieb ihr in der Kehle stecken, ihre Bedürftigkeit in Ketten gelegt tief unter Schichten von Angst. Alles, was sie hervorbrachte, war ein Blick. Nur ein schüchterner, flehender Blick.

 

Es würde nicht funktionieren. Wie hatte sie, auch nur für einen Moment, denken können, es könnte anders sein? Kein weißes Einhorn für sie. Für sie keine Legende, zum Leben erweckt, kein Wunder. Nur blutrote Tränen, um die Leere zu füllen.

 

Das Einhorn war verschwunden. Genau dort, ihr gegenüber, am entgegengesetzten Ende der Lichtung, wo noch eine Sekunde zuvor der Mond das seidige Fell mit silbernem Glanz überzogen hatte, befleckten seine Strahlen nun lediglich die Bäume mit grausigen Mustern aus kränklichem Licht und Schatten. Die trostlosen grauen Stämme von Skelettbäumen in einem Albtraumwald. Ihr Leben war nichts mehr als das.

 

Es hatte nun keinen Sinn mehr zu bleiben. Es hatte keinen Sinn heimzugehen. Unter den erbarmungslosen Strahlen des Mondes, unter dem leeren, starren Blick der Bäume, gerann ihr Herz zu einem Betonblock. „Nicht einmal zum Bluten könnte man mich noch bringen,“ dachte sie. „Nicht einmal wenn…“ – was war das? Etwas hatte ihren Nacken berührt! Noch vor fünf Minuten wäre sie aufgesprungen und hätte geschrieen, aber nun war sie jenseits von Entsetzen. Erstarrt in der Gewissheit der Ablehnung, in dem eisigen Verlust einer letzten Hoffnung, wie zerbrechlich und illusorisch auch immer, war ihr die Aussicht auf den Tod willkommen. Die Zeit schien eine Ewigkeit stillzustehen, während sie wartete.

 

Doch was schließlich kam, war keine giftige Spinne, die ihr in den Hals beißen wollte. Keine Wildkatze kam, um ihr die Haut zu zerkratzen, noch kam ein menschliches Raubtier, um sie zu erdrosseln. Was sie fühlte – bebend, kaum fähig es zu glauben – war der warme Atem pferdeähnlicher Nüstern, die sanfte Liebkosung samtweicher Lippen. Sie wurde beschnuppert, der schlanke, muskulöse Körper schmiegte sich näher an sie heran, das silberne Fell glitzerte im Mondlicht, das silberne Horn keine Gefährdung für sie, sondern ein stummes Versprechen des Schutzes, eine tödliche Drohung an ihre Feinde. Blendend in strahlender Majestät, und doch vertraut in zarter Zuneigung, ging das Einhorn vor der Frau auf seine Knie und legte vorsichtig seinen perfekten Kopf auf ihren nackten Schoß.

 

Wie es so dalag und vertrauensvoll bei ihr ruhte, öffnete sich ein Auge des grazilen Geschöpfes halb unter seinen dichten seidenen Wimpern, und die Frau sah darin den Himmel gespiegelt mit all seinen Sternen, sah darin gespiegelt sich selbst. Innerhalb dieser Kugel, dieses tiefschwarzen Universums, sah sie Wasser steigen, reine Wasser emporsteigen und glänzen. Eine große runde Träne rollte aus dem Auge des Einhorns. In dem Moment, als sie den Schoß des Mädchens berührte, lief ein Schauer durch ihren ganzen Körper. Es war die Berührung von Balsam auf Wunden. Die Berührung von Morgentau auf zertretenem, verwelktem Gras. Die Berührung selbstloser Liebe auf einem einsamen, gebrochenen Herzen.

Einem Herzen, das wertvoll war. Einem Herzen, das eines Wunders würdig war. Einem Herzen, das zum Mittelpunkt der Zuneigung gemacht wurde. Zum Mittelpunkt einer Liebe, die nicht wegschauen würde. Einer Liebe, die nicht zurückschrecken würde. Die sie meinte. Nur sie.

 

Ihre wunderschönen grünen Augen weiteten sich bei dieser Erkenntnis. Das Mädchen schlang seine Arme um den Hals des Einhorns, silbernes und goldenes Haar floss ineinander. Während sie ihre Hände in der weißen Mähne vergrub, sich mit all ihrer kindlichen, unwiderstehlichen Bedürftigkeit daran festklammerte, fühlte sie, wie etwas Nasses ihre Finger benetzte. Tränen fielen auf das weiße Fell des Einhorns, verschmolzen mit ihm, als ob sie dort Zuflucht suchen wollten. Ihre eigenen Tränen. Durchsichtige Tränen.

Sachte hob das Einhorn sein makelloses Haupt. In seinen schimmernden schwarzen Augen war Wärme. Zärtlichkeit. Ein festes Versprechen.

Sanft regte sich eine frische, wohlduftende Brise und fing leise in den Zweigen ringsum an zu flüstern. Der Frühling war gekommen.

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