Sie wusste eigentlich selbst nicht recht, warum sie hierher gefahren war. Dieser Ort war von der Baustelle keine zehn Minuten entfernt und sie hatte ihn entdeckt, als sie nach der Arbeit vor einigen Wochen noch ein bisschen die Gegend erkundet hatte. Solch eine kleine Kapelle, die auch noch immer geöffnet war, gab es bei ihr zu Hause nicht. Trotzdem, was sollte sie schon hier? Was erwartete sie sich eigentlich von diesem Ort? Ruhe? Antworten?

Seit Wochen suchte sie bereits Ruhe. Der Bau der Hochbrücke über die Mosel war in seiner kritischen Phase und sie als Geologin war in ständiger Anspannung. Jeden Tag neue Meldungen in der Presse, der Berg würde die Fundamente nicht halten. Sie straften ihre Gutachten Lügen und Tabea musste ständig nachlegen. Der Druck war immens. Und dann das! Als sie Freitagabend nach einer heftigen Woche nach Hause fuhr, war Leon auf der Mailbox. Aber anders als gewöhnlich. Er hörte sich seltsam an. Sie hatte eigentlich gehofft, er würde ihr in naher Zukunft einen Antrag machen. Nun, jetzt brauchte sich wenigstens keine Gedanken mehr zu machen, wie sie ihre Freunde aus den USA und Namibia auf ihre Hochzeit bekommen würde.

Und was sollte diese Kapelle bringen? Alte muffige Steine, abgebrannte Kerzen und Kälte. „Was soll’s. Jetzt bin ich schon mal hier, dann gehe ich auch rein“, murmelte sie vor sich hin, während sie die Tür ihres BMW I3 zuschlug.

Tatsächlich war die dunkle schwere Holztür offen. Eigentlich hatte sie eine kleine barocke Schatztruhe hier erwartet, Wände mit Bildern und Altäre mit goldenen Puttenengeln. Diese Miniaturausgabe eines Gotteshauses erinnerte sie jedoch eher an die Kapelle der Gemeinde, die sie während ihres Auslandsemesters in Los Angeles immer besuchte. Sie hatte schon damals bewundert, welche Atmosphäre das für Hochzeiten benutzte Gebäude abseits des Trubels der Megachurch hatte. Es war asketisch eingerichtet, weiße Wände, hohe lichtdurchflutete Fenster, ein heller Holzfußboden, Reihen von gepolsterten Stühlen, ein großes Naturholzkreuz und über dem vorderen Bereich von der Decke hängend eine riesige Krone aus Bronze.

Diese Kapelle hier war ähnlich ausgestattet. Seltsam, sie hätte die Region nicht für so modern gehalten. Wie erwartet, war niemand hier. Dennoch brannten viele Kerzen. Obwohl Tabea nicht der Romantiker war, fühlte sie sich hier irgendwie liebevoll willkommen. Sie setzte sich in die zweite Reihe und betrachtete das Kreuz. Strahlte es dort an der Kreuzung des Querbalkens? Als wäre da auch eine Kerze drin. Muss wohl an den Fenstern liegen.

Plötzlich wurde hinter ihr ein Streichholz angezündet. Tabea fuhr herum und entdeckte einen jungen dunkelhaarigen Mann, der gerade eine an der Wand befestigte große Kerze anzündete. Wo kam der denn plötzlich her? Die Kapelle war doch leer, als sie sie betrat. Peinlich berührt drehte Tabea sich wieder nach vorne. Mist. Das war’s dann wohl mit der Ruhe und Besinnung, die sie hier suchte. Sie könnte eigentlich auch gleich gehen. Nein, das würde aussehen, als hätte sie vor dem Mann Angst und würde fliehen. Man kann alles übertreiben. „Ich bete jetzt hier, fertig“, dachte sie trotzig.

„Hi!“ Offenbar war er nach vorne gekommen. „Hallo“, entgegnete Tabea, ohne den Mann auch nur eines Blickes zu würdigen. Was sollte das. Wusste der nicht, dass man betende Leute nicht störte. Depp.

„Manchmal hilft es, den Kummer auszusprechen.“ Bitte was? Was fällt dem Typ ein? Würde er sie alleine lassen, würde sie vielleicht hier vor dem Kreuz ihren Kram aussprechen. Aber doch nicht vor Wildfremden!

„Deswegen bin ich hier!“, entgegnete sie einem unmissverständlichen Ton. „Ich würde gerne mit Gott reden!“

„Ja eben“, kam nur zurück.

Verwirrt schaute Tabea nun doch auf. Der Mann stand vielleicht einen guten Meter entfernt, und irgendwas in seinen Augen verschlug ihr den Atem. Nicht nur, dass sie atemberaubend aussahen. Das hatte sie schon oft gesehen. Die jungen Männer, die ihr während des Studiums den Hof machen wollten, waren alle nicht gerade hässlich. Aber sie wollte nicht irgendeinen. Naja, offenbar war der, den sie dann genommen hatte, wohl doch nicht der Eine. Nein, diese Augen waren irgendwie wissend, durchdringend, so als würden sie bis tief in ihre Seele blicken. Kannte sie ihn irgendwoher? Es fiel ihr beim besten Willen nicht ein, woher. Trotzdem war es, als würde sie dieses Gesicht kennen. Er war groß, schlank und sah umwerfend aus. Er trug eine verwaschene Jeans und ein weißes modernes T-Shirt.

„Sorry, aber kennen wir uns?“, fragte sie nach einigem Schweigen.

„Ja, wir kennen uns! Ziemlich gut sogar!“

„Tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern! Sind sie von der Baustelle?“

„Nein, nicht von dieser. Ich bearbeite zwar eine Unmenge an Baustellen, aber die sind eher menschlicher Natur!“

Der Mann sprach in Rätseln.

„Okay, und woher kennen wir uns? Eigentlich war ich hergekommen, um ein bisschen Privatsphäre zu finden.“. Sie hoffte, dass der Wink mit dem Zaunpfahl deutlich war. Nach dem Ärger der letzten Wochen mit Leon hatte sie es wirklich nicht auf ein Rendezvous mit einem wenn auch hervorragend aussehnen Mann abgesehen.

„Verlassenwerden ist eine wirklich unschöne Sache. Man fühlt sich so weggeworfen, nicht gut genug. Man glaubt, es läge an einem selbst. Und man zermürbt sich den Kopf, was man falsch gemacht hat.“

Wer um alles in der Welt war das? War es so auffällig, dass sie eine verlassene Frau mit enttäuschten Hoffnungen war? „Nun, ich denke, dass geht sie wohl nichts an. Wenn ich auch sagen muss, dass sie natürlich völlig recht haben!“

„Es ist nicht deine Schuld! Eure Vorstellungen von Gott und dem Leben waren zu unterschiedlich. Du bist eine sehr talentierte Frau. Für dich gibt es noch sehr viel zu tun. Und er konnte das nicht sehen. Für ihn war es genug, den Glauben in seinen eigenen Alltag zu integrieren. Du hast größere Visionen. Du willst die Welt verändern. Hättet ihr geheiratet, hättest du die Welt nicht mehr aus den Angeln gehoben.“

„Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber woher wissen sie so viel über Leon und mich? Oder besser, glauben zu wissen. Ich denke nicht, dass wir unterschiedliche Vorstellungen hatten. Klar, Leon war zufrieden damit, sonntags in den Gottesdienst zu gehen und sich mit seinen Freunden aus der Gemeinde zu treffen. Ja, und er fand es auch ziemlich stressig, wenn er mich bei den Camps für die Kinder oder den Missionseinsätzen begleiten sollte. Aber das war nicht so schwerwiegend.“

„Was ist dein Herzenswunsch? Mal abgesehen davon zu heiraten und Kinder zu bekommen?“

„Oh Gott, dass hat mich seid meiner Zeit in LA niemand mehr gefragt. Früher wollte ich immer irgendwohin gehen, wo es noch keine Gemeinde gibt, und dort wollte ich etwas aufbauen. Was für Kinder und Jugendliche. Ich fand immer, die kommen hier in Deutschland ein bisschen zu kurz. Aber das waren Jugendträume. Ich habe einen Job, eine Wohnung, ein Auto. Ich muss Rechnungen bezahlen. Also kann man wohl kaum sagen, dass mir Leon diese Träume geraubt hat!“

Dieser Mann schaute Tabea schweigend an. Für einen Moment dachte sie, er würde jetzt endlich aufgeben und verschwinden. Allerdings hatte sie irgendwo in der hintersten Ecke ihres Herzen das Gefühl, dass sie das gar nicht wollte. Meine Güte, wer war das nur? Und woher wusste er so viel. So einen Typen vergisst man doch nicht einfach so. Sie nutze die Stille um in ihren Gedanken zu kramen. Schule? Nein. Gemeinde? Nein. Studium? Nein. Familie? Nein. Kollegen? Nein. Und überhaupt, er war ja offenbar in der Beratungsbranche tätig, wenn er eher mit menschlichen Baustellen zu tun hatte. Hatte sie an der Uni nicht Kontakte zu Psychologiestudenten? Aber davon war er auch keiner.

„Wie kamst du denn zu diesen Träumen?“ Moment mal, worüber hatten sie noch geredet? Ach ja, ihre Ideen von ihrem gemeindlichen Engagement.

„In der Gemeinde, in der ich aufwuchs, gab es eine sehr coole Pastorin. Sie ermutigte uns immer wieder, größer zu denken, zu träumen. Damals dachte ich, ich könnte die Welt verändern. Wir dachten das alle! Später dann in LA gab es so eine ähnliche Frau. Die kramte das wieder hervor. Aber heute bin ich erwachsen. Diese Träumereien gehören nicht mehr in mein Leben.“

„Tabea“, sagte er sanft. Es war, als schaute er ihr nicht nur in die Augen sondern bis in die innersten Gedanken und Erinnerungen ihres Daseins. Sie hatte es noch nie gehört, wie jemand ihren Namen so aussprach. Fast vergaß sie zu atmen. Was war das nur? Wer war das nur? Es erschien ihr, als würde das Siegel eines gut verschlossenen Paketes in ihrem Innerem geöffnet. Und das, was darin war, tauchte langsam aus der Vergessenheit auf. Es brach sich seine Bahn, spürbar, von ihrem Bauch hoch. Nicht die Vision, nein, es war etwas anderes. Liebe? Es war Liebe. Es war ein tiefes Gefühl von Geliebtsein. Von Angenommensein. Von Gut genug sein. Ein Gefühl, schön und erwünscht, ja ersehnt zu sein.

„Tabea“, sagte er noch einmal.

„Wer bist du? Warum passiert das?“, war alles, was sie entgegnen konnte.

„Ich bin der, der dich schon immer liebt. Ich bin der Sinn und das Ziel deines Lebens. Ich bin der, der jede Sekunde an deiner Seite ist. Ich bin der, der dich trägt, wenn du nicht mehr gehen kannst, der deine Tränen trocknet, wenn du dich in den Schlaf weinst, und ich bin der, der dich bewundert, wenn du strahlst und tanzt und lachst, wenn du sprichst und singst und träumst.“

„Du bist“, sie stockte. Sie fühlte plötzlich seine Gegenwart körperlich. Ein Zittern ging über ihre Haut. Sie atmete aus: „Du bist Jesus?“

Er antwortete nicht, doch seine Augen ließen sie nicht im Zweifel.

„Vertraust du mir? Vertraust du mir wirklich? Ich habe so viele unglaubliche Dinge für dich geplant. Großartige Dinge. Alles steht bereit für dich. Du musst nur losgehen! Glaube mir, ich würde nie etwas tun, das nicht gut für dich ist. Aber ich habe mit dir noch so viel vor. Da brauchst du den richtigen Mann an deiner Seite. Auch der steht schon bereit. Wenn du mir vertraust, bereit bist, auf das Wasser zu gehen, werde ich dich an Orte führen, werde dir Erlebnisse schenken, eine Zukunft, die du dir niemals erträumt hättest!“

Er streckte seine Hand nach ihr aus und fuhr ihr sanft durch das Haar.

„Ich liebe dich. Vergiss das nie!“

Tabea schloss ihre Augen und nahm diese atemberaubende Liebe in sich auf. Es war, als würde Jesus mit seiner Hand die Wunden ihrer Seele heilen. Eine tiefer Friede legte sich um ihr Herz. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie allein. Die Sonne strahlte durch die Fenster herein und der Raum glänzte.

„Bleib doch noch!“, flüsterte Tabea, wissend, dass sie nie wieder die Alte sein würde.